Petra Mühlenstädt

Frau Schmidt wartet auf die Muse

Leseprobe

Frau Schmidt wartet

Oh, guten Tag! Treten Sie doch näher.
Nein, Sie stören überhaupt nicht! Sie können mir gern Gesellschaft leisten. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?
Was ich hier mache? Nun ja, wie soll ich das erklären?
Ich warte.
Worauf?
Ja, wissen Sie, das ist so - Milch? Zucker?
Ich wurde mehrfach, zuletzt sehr eindringlich, gebeten, etwas zu schreiben. Wobei "etwas" bedeutete, ich solle doch zu den jährlich erscheinenden rund 80.000 Buchexemplaren noch ein weiteres hinzufügen.
Nun sitze ich hier und warte - auf den berühmten Musenkuss.
Lachen Sie nicht! Das ist eine ganz verzwickte Sache.
Die Muse hat sicher viel zu tun, denn bei mir war sie bisher nicht. Und ich kann von ihr ja auch nicht erwarten, dass sie jetzt in diesem Augenblick gerade Zeit für mich hat, nur weil ich hier sitze und ein Buch schreiben will.
So sitze ich hier - ach, bitte, setzen Sie sich doch! -, starre auf das weiße Blatt Papier (in Form eines leeren Word-Dokuments) und kaue am Bleistift (in Form einer Zigarette).

Am Anfang war das Wort. Tja, aber welches?

Vielleicht muss man ja igendwo einen Termin machen...? Ich möchte nicht wissen, wie der Terminkalender einer Muse aussieht.

Wissen Sie, dass das Schwerste immer der Anfang ist? Sicher wissen Sie das, Sie haben bestimmt auch schon eimal angefangen. Jeder fängt mal an - womit auch immer.
Erinnern Sie sich an Ihr erstes Fahrrad?
Ich kann mich an meines nur dunkel erinnern.
Wir wohnten in einer Hinterhauswohnung in Berlin-Neukölln und der Hof war komplett betoniert. Eines Tages - ich weiß nicht, ob es mein Geburtstag oder ein anderer feierlicher Anlass war - besaß ich, etwa drei- oder vierjährig, ein Fahrrad mit Stützrädern. Ein älterer Herr, der auch in unserem Haus wohnte, brachte mir das Radfahren bei. Während er mich am Fahrradsattel festhielt, fuhr ich stundenlang in unserem Hinterhof im Kreis, immer um den in der Mitte des fast quadratischen Betonhofs befindlichen Gully herum - der arme Mann muss abends wahnsinnige Kreuzschmerzen gehabt haben.
Aber für mich war es paradiesisch. Ich fuhr fortan fast jeden Tag bis zum Dunkelwerden im Kreis herum, taufte mein Fahrrad "Schwarzer Blitz" und ritt über die Prärie - meilenweit ... The Lonesome Cowboy.
Irgendwann warf mich "Schwarzer Blitz" aber rüde aus dem Sattel, nämlich als ich eines Tages durch eine Fettpfütze fuhr, die sich in der Nähe des Gullys befand. Der ebenfalls auf dem Hof ansässige Fleischer entsorgte die Fettreste seiner Fleischerei immer gern in diesen Gully und hatte wohl beim Auskippen des Drecks nicht aufgepasst.
"Schwarzer Blitz" gefiel es gar nicht, durch das Fett laufen zu müssen, scheute und warf mich ab. Ich landete unsanft auf dem Steinboden und riss mir einmal mehr das Knie auf - natürlich mitten in der Fettpfütze.
Erstaunlicherweise und zu meiner großen Erleichterung überlebte "Schwarzer Blitz" diesen schweren Unfall und trug nur einige Schrammen davon.
Tja, so war das damals.
Na ja, schon ganz nett. Aber wen interessiert es, wie ich das Radfahren gelernt habe.
Noch Kaffee? Ich habe auch Kuchen. - Diät? Na, aber SIE doch nicht! Nur keine falsche Bescheidenheit. Den Kuchen habe ich selbst gebacken. Das kann ich besser als Bücher schreiben, glauben Sie mir. Im Kuchenbacken habe ich wenigstens Übung.

Wo bleibt sie nur...?

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja - das erste Mal. Nein, das war es eigentlich nicht. Ich suchte - und suche noch immer - nach einem Anfang. Genau genommen suche ich einen Faden - einen möglichst langen Faden...

Camping

Es gibt ja zahlreiche Erzählungen über das Reisen. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Oh ja!
Waren Sie schon einmal auf einem Campingplatz? Nein? Belassen Sie es dabei! Es sei denn, sie benötigen diese Erfahrung für Studienzwecke.

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So freute ich mich auf ein bequemes Bett, ein gutes Buch und frische Luft, denn es war noch immer recht warm. Ich beabsichtigte, mich bei geöffneter Tür mit meinem Schmöker zu entspannen.
Um eines vorweg zu nehmen: Zum Lesen kam ich nicht. Vielmehr wurde mir erst jetzt lautstark in Erinnerung gerufen, wo genau ich mich befand. Nämlich: Auf einem Campingplatz!
Udn wenn es dort etwas überhaupt nicht gibt, dann ist es Ruhe.
Nun sind ja die einzelnen Wohnwagenplätze parzellengleich aufgeteilt und meist durch Hecken so voneinander getrennt, dass man nicht zwingend in den "Hintergarten" des Vordermanns blicken kann. Muss man aber auch nicht - man hört ihn, wenn er zuhause ist.
"Kommta zum Grill'n rüba?" gröhlt es von der linken Parzelle in eine undefinierbare Richtung. Die Antwort bleibt man mir schuldig oder sie wurde gegen den Wind gebrüllt, offensichtlich hat der Angerufene aber die Einladung zum "Grill'n" angenommen, denn ihm wurde aufgetragen:"Jut, denn bringt jenuch Löschwassa mit!"
"Denn frach ma Hubert!" ließ darauf schließen, dass beim Eingeladenen nicht ausreichend Löschwasser auf Lager war.

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Kinder

Nun, das ist für den Anfang ja schon mal ganz nett. Daraus lässt sich bestimmt etwas machen - mit ein bisschen mehr Phantasie. Über Urlaube und Reisen kann man ja ganze Bücher vom Format einer Brockhaus Enzyklopädie füllen.
Langweile ich Sie? Nein? Das freut mich.
Wissen Sie, es gibt kein wirksameres Mittel gegen Langeweile als Kinder. Auch über diese kleinen Plagegeister und ihre kleinen oder großen Angriffe auf das Nervenkostüm ihrer jeweiligen Eltern wurden schon ebenso viele Bücher geschrieben.
Haben Sie Kinder? Ach, nicht - nun ja, dann wissen Sie natürlich auch nicht, was ich meine. Ich habe zwei von der Sorte - Typ männlich. Und das ist auch gut so.
Allein der Gedanke, ich müsste mindestens ein Kinderzimmer mit rosa-, weiß- und pinkfarbenen Utensilien ausstatten, in denen Hunderte ebenso farbiger Puppen, pinkfarbene Pferde mit rosa Mähne und einer endlosen Kollektion geblümter, glitzernder und ähnlich auffälliger Kleidung lagern, lässt mich gläubig werden.
Lieber Gott, ich danke Dir, dass ich umgeben bin von Jeans, Fußbällen, Autos und Harry Potter!

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